Geschichte Ungarns
Ungarn ist ein Vielvölkerstaat, was es seiner langen und wechselvollen Geschichte zu verdanken hat. So stammen die Vorfahren eines Großteils der Ungarn beispielsweise aus dem Ural-Gebiet, wo sie aus einer großen Ur-Gesellschaft, den obugrischen Völkern, hervorgingen. Die Völkergemeinschaft der Uralvölker löste sich etwa um 4000 vor Christus auf, die dabei entstandene finnougrische Gesellschaft etwa um 2000 vor Christus. Die Ugrier, Ungarns Urväter, blieben zu dieser Zeit im Westen Sibiriens zurück, während andere Stämme weiter westwärts wanderten. Sie wurden sesshaft, betrieben Ackerbau und begannen sogar mit der Pferdezucht.
Um etwa 1000 vor Christus spalteten sich die Magyaren, die Ungarn also, von den Ugriern ab. Ihre Umwelt veränderte sich, das Klima veränderte sich. Deshalb wanderten die verbliebenen Ugrier nach Norden, die Magyaren blieben vorerst als Nomaden in ihrem Siedlungsgebiet. In dieser Zeit bildete sich so etwas wie ein Selbstbewusstsein der Magyaren heraus, es entstand eine Identität, eine Kultur. Die Begegnung mit den iranischen Völkern der Skythen und Sarmaten etwa 500 vor Christus im südlichen Ural verlief vermutlich friedlich und bereicherte beide Kulturen. Aus dieser Zeit soll auch eine Sage stammen, die heute jedes ungarische Kind als die Sage von Hunor und Magor kennt. Im Prinzip erzählt sie von der (angeblichen) Verwandtschaft der Magyaren mit den Hunnen. Die Völker waren tatsächlich nicht miteinander verwandt, ihre (angebliche) Verbindung ist aber zum Beispiel der Grund, warum der Name Ungarns in vielen anderen Sprachen immer mit H (Hungary, l’Hongrie,…) beginnt und warum Attila bis heute ein gern vergebener Name in Ungarn ist.
Etwa um 500 nach Christus wanderten die Magyaren in Richtung Westen und verließen ihr Siedlungsgebiet im Südosten des Urals. Über die Gründe ihrer Wanderung kann nur spekuliert werden, die Wanderung selbst scheint jedoch belegt. Relativ sicher ist, dass sie etwa um 800 nach Christus ein Gebiet namens Levedien unweit des Schwarzen Meeres erreichten. Dort unterwarfen sie sich den herrschenden Chasaren bzw. deren Khan und wurden erneut sesshaft. Byzantinische Quellen aus dem 10. Jahrhundert belegen, dass die Magyaren zu dieser Zeit eine Art Doppelfürstentum besaßen. Das Volk der Magyaren bestand zu dieser Zeit aus 7 Stämmen: den Jen?, Kér, Keszi, Kürtgyarmat, Nyék, den Megyer und den Tarján.
9. bis 15. Jahrhundert
Schon lange bevor die Magyaren das heutige Ungarn erreichten, war das Land in Besitz der unterschiedlichsten Herrscher und Kulturen. Das iranische Volk der Skythen und die Kelten siedelten bereits im Karpatenbecken, als das römische Reich auf diesen Landstrich aufmerksam wurde. Pannonien, das sich über Teile des heutigen Ungarn, Österreich, Serbien, Slowenien und Kroatien erstreckte, fiel in mehreren Kriegen an das Römische Reich. Es wurde römische Provinz, Roms Eisenproduzent und Erholungsort römischer Bürger. Dafür profitierte es von allen Vorteilen einer römischen Provinz, angefangen vom Bau diverser Zentralheizungen und Thermen über die Aufwertung und Restauration von Gebäuden bis hin zum römischen Recht und der Verbreitung der Schrift.
Im 4. Jahrhundert trat Rom die Herrschaft über Pannonien an die Hunnen ab. Nach dem Tod des legendären Hunnenkönigs Attila im 5. Jahrhundert zerfiel das Hunnenreich aber relativ rasch und es folgten erbitterte Machtkämpfe zwischen ansässigen Ostgoten, Langobarden und Awaren. Als die Magyaren das Gebiet im 9. Jahrhundert erreichten, siedelten dort vorwiegend Slawen.
Die Magyaren lebten bis zum 9. Jahrhundert unter den Chasaren in Levedien, unter denen es in dieser Zeit zu Unruhen kam. Die Magyaren stellten sich dabei gegen die Chasaren, aber der Aufstand scheiterte und viele Aufständige flüchteten zu den Magyaren. Für die war die Situation alles andere als sicher, der einzige Ausweg hieß: Flucht. Auf ausgedehnten Streifzügen hatten sie sich mit anderen Völkern wie den Byzantinern verbündet und flüchteten nun Ende des 9. Jahrhunderts unter der Führung ihres Großfürsten Árpád in Richtung der Karpaten. Nach weiteren Kämpfen mit anderen Stämmen besiedelten die Magyaren das Karpatenbecken. Ab 899 herrschten die Magyaren über ganz Pannonien.
Das erste ungarische Königreich geht auf Stephan I. zurück, der die magyarischen Stämme christianisierte und nach karolingischem Vorbild sowie gegen den heftigen Widerstand der Stammesfürsten im Jahr 1000 einigte. Bis zur Staatsgründung machten die Magyaren als Unruhestifter in ganz Europa von sich reden: Feldzüge bestimmten die Außenpolitik, Bereicherungen, Landnahme. Bei ihren Raubzügen waren sie äußerst erfolgreich, was wahrscheinlich sowohl auf ihr kriegerisches Geschick als auch auf die Machtkämpfe unter den Gegnern zurückzuführen war.
Außenpolitisch musste sich das neu gegründete Reich erstmals 1030 gegen das römisch-deutsche Kaiserreich bewähren, die Gefahr kam jedoch auch von innen: der Hochadel hatte sich keineswegs mit seiner Entmachtung abgefunden und so musste der ungarische König, der ab 1102 auch König von Kroatien war, viele Machtproben bestehen, die ihren Höhepunkt im 13. Jahrhundert fanden.
Im 13. Jahrhundert sah sich das Königreich dem „Mongolensturm“ gegenüber. Die Mongolen verwüsteten und entvölkerten dabei breite Landstriche. In der Konsequenz holte der damals regierende König Béla IV. deutsche Siedler ins Land, die im Siebenbürgen und der heutigen Slowakei angesiedelt wurden.
Andreas III., der letzte aus der Linie der Árpád, starb im Jahr 1301. In den Jahren 1370-1386 und 1440-1444 oblag die Regierung Ungarns den Anjou und den Jagiellonen. Sigismund von Luxemburg und Matthias Corvinus brachten Ungarn gegen Ende des Mittelalters zur Blüte. Ungarn wurde nicht nur zur politischen Großmacht, sondern auch zum Zentrum der Renaissance und des Humanismus. Die polnisch-litauischen Jagiellonen regierten in Personalunion mit Böhmen das Reich, bis es nach der Schlacht bei Mohács 1526 an die Osmanen unter Süleyman den Prächtigen fiel.
16. bis 19. Jahrhundert
Sobald die Schlacht bei Mohács 1526 gewonnen war, überließen die Osmanen den ungarischen Thron den Habsburgern. Bis zum Jahr 1541 trennte sich das Fürstentum Siebenbürgen in einem Bürgerkrieg von Ungarn, stand aber wie auch die mittelungarischen Gebiete unter türkischer Oberherrschaft. Das heutige Ungarn war 1541 von den Türken besetzt und zur Provinz des Osmanischen Reichs erklärt worden.
Die Aufteilung des ehemaligen ungarischen Königreiches unter den Türken und den Habsburgern verkleinerte das Staatsgebiet Ungarns ungemein: unter der Bezeichnung „Königliches Ungarn“ gehörten Teile des einst so großen und mächtigen Staates nun zu Wien und waren zu einer Provinz degradiert worden. Formal wurden von nun an die Habsburger Herrscher als ungarische Könige gekrönt. Hinter den Kulissen kam es jedoch immer wieder zu erbitterten Kämpfen zwischen den Türken und den Habsburgern um die Oberhand in Ungarn. Die Auseinandersetzungen endeten damit, dass das Haus Habsburg die von den Türken besetzten Gebiete bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts zurückeroberte. Innenpolitische Spannungen traten im 18. Jahrhundert auf, als sich die Ungarn im Kuruzenaufstand 1703-1711 gegen die harte politische Hand der Habsburger zur Wehr setzten. Nach einer kurzen Zeit der Ruhe erwachte jedoch Anfang des 19. Jahrhunderts das Nationalbewusstsein der Ungarn, was neue Unruhe und Aufstände hervorrief: das Ungarische ersetzte zum Beispiel das Lateinische als Staatssprache, 1848 folgte eine Revolution, in deren Verlauf die Entthronung des Hauses Habsburg und die Unabhängigkeit Ungarns verkündet wurde. Auf diesen Affront folgten blutige Kämpfe, Unterdrückung und die Hinrichtung der Revolutionsführer.
Erst unter Franz Joseph I. erfolgte der Ausgleich der Habsburger mit Ungarn und verbunden damit eine Stärkung der Position von Ungarn in der k.u.k. Doppelmonarchie. Maßgeblich daran beteiligt war Elisabeth von Österreich, besser bekannt als Sisi, die den Ausgleich auch gegen den ausdrücklichen Willen Ihrer Schwiegermutter und des Großteils des Adels durchsetzte. Das ungarische Volk dankte es ihr mit einer bis heute andauernden Verehrung.
1900 bis 1945
Nach Ablauf der Frist, die im Ausgleich festgesetzt worden war, wurde Ungarn 1918 zunächst als demokratische Republik wieder errichtet. Ihr erster Präsident war Mihály Károlyi. Allerdings wurde Ungarn nach dem 1. Weltkrieg als Nachfolgestaat der k.u.k. Monarchie angesehen und wurde dementsprechend zur Zahlung von Reparationen verpflichtet – eine große Belastung für die junge Republik. Dem damaligen politischen Trend folgend versuchte man auch im Ungarn von 1919, eine Räterepublik nach russischem Vorbild aufzubauen. Nach dem Scheitern des Versuchs war ein deutlicher Ruck hin zu einem konservativen, autoritären Staat spürbar. Trotz allem war Ungarn zumindest offiziell noch eine Monarchie, die vom Reichsverweser Miklós Horthy regiert wurde. Die Reparationszahlungen wurden auf 33 Jahre Abzahlungsdauer angesetzt, Ungarn verlor einen Großteil seines Staatsgebietes und musste sein Heer auf 32.000 Mann beschränken.
Wirtschaftliche Krisen und geschickte Propaganda führten zur politischen Annäherung Ungarns an die Nationalsozialisten Deutschlands und zur Teilnahme des Landes am Zweiten Weltkrieg. War die Begeisterung darüber 1941 noch groß, entdeckten Teile der ungarischen Regierung doch bald ihr schlechtes Gewissen und nahmen Kontakt mit den Alliierten auf. Daraufhin wurde nun Ungarn 1944 von deutschen Truppen besetzt und eine neue, Nationalsozialisten-freundliche Regierung unter Döme Sztójay gebildet. Die Folgen waren grausam: Eilgesetze entrechteten alle Juden vollständig, die ihrerseits nun massenhaft in die Vernichtungslager deportiert wurden. Innerhalb von nur zwei Monaten wurden mehr als 437.000 Menschen in den sicheren Tod geschickt, bis Reichsverweser Horthy im Juli 1944 die Deportation aufgrund von Protesten aus dem Ausland vorerst einstellen ließ. Das war auch für Horthy das politische Aus in Nazi-Deutschland: Mitte Oktober wurde er gestürzt, die Macht übernahm die faschistische Bewegung der Pfeilkreuzler. Da das Zugnetz die Massen an Deportierten, die ab diesem Zeitpunkt verbracht wurden, nicht mehr bewältigen konnte, kamen Tausende bei Todesmärschen ums Leben. Aber auch wer im Ghetto in Budapest blieb, war seines Lebens nicht sicher.
Im Oktober 1944 wurden Teile Ungarns bereits von der Roten Armee besetzt. Bis Anfang Februar wurde die ungarische Hauptstadt durch sowjetische Streitkräfte belagert, die versuchten, die eingeschlossenen deutschen und ungarischen Truppen zum Aufgeben zu zwingen. Ergebnis dieser Strategie waren große Zerstörungen in Budapest, die Tötung von 38.000 Zivilisten und die Sprengung sämtlicher Brücken der Stadt. Am 18. Januar 1945 wurde nun auch das Budapester Ghetto von der Roten Armee befreit. Die letzten Kampfhandlungen in Ungarn fanden am 4. April 1945 statt.
1945 bis 1989
Nach dem 2. Weltkrieg gehörte Ungarn zur russischen Besatzungszone. Zunächst war die Erarbeitung einer demokratischen Verfassung für Ungarn vorgesehen worden. Die Kommunisten, durch eine politische Niederlage angestachelt, begannen jedoch, die Macht an sich zu reißen und bestehende Parteien aufzulösen. Die Wahl war angesichts einer einzigen teilnehmenden Partei eine Farce, schon bald war beschlossen, dass Ungarn eine Verfassung nach sowjetischem Vorbild bekommen sollte. Unter Mátyás Rákosi verfolgte der Staat von 1948 bis 1953 einen extremen, stalinistisch geprägten Kurs.
Ähnlich wie auch in der späteren DDR waren Schau- und Geheimprozesse in Ungarn an der Tagesordnung. Auch hier gab es eine Staatssicherheit, die ÁVH, die sowohl gegen offensichtliche „Feinde“ als auch gegen Kommunisten vorging. Die stalinistische Ära in Ungarn endete vorerst 1953 mit dem Tod Stalins. Das war die Chance, auf die Imre Nagy gewartet hatte: als Ministerpräsident strebte er fortan Liberalisierung an. Aber schon 1955 wurde er durch die Parteispitze entmachtet, was innenpolitische Unruhen zur Folge hatte. Im Jahr 1956 schließlich wurde Nagy im Laufe eines Volksaufstandes erneut zum Ministerpräsidenten ernannt. Der Aufstand allerdings wurde mit Hilfe der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen. Nach dem gescheiterten Volksaufstand verließen mehr als 200.000 Ungarn ihr Land, viele aus Angst, fast alle auf der Suche nach Frieden und Freiheit. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, das Land zu verlassen, dem erging es wie Nagy: er wurde hingerichtet.
János Kádár, neuer Parteichef, ehemaliger Stellvertreter Nagys und der Organisator der sowjetischen Intervention beim Volksaufstand übernahm die Leitung der Staatsgeschäfte von 1956 bis 1988. Allerdings setzte er ab 1968 in wirtschaftlichen Bereichen auf eine abgemilderte Form des Sozialismus, der auch Raum für privatwirtschaftliche Elemente ließ. Bekannt wurde diese Art des „milden Kommunismus“ unter der Bezeichnung „Gulaschkommunismus“.
Das Jahr 1988/89 markiert einen weiteren wichtigen Wendepunkt in Ungarns Geschichte. 1988 wurden erstmals Oppositionsgruppen toleriert, der Wirtschaftsreformer Miklós Németh übernahm das Amt des ungarischen Ministerpräsidenten. Bereits im Mai 1989 begann Ungarn damit, die in die Jahre gekommenen Grenzanlagen zu Österreich aus ökonomischen Gründen abzubauen. Diese Entscheidung wird heute als erste offizielle Öffnung des Eisernen Vorhangs gewertet, ein Schritt, der eine ganze Reihe von Ereignissen ins Rollen bringen sollte. Einmal mehr hatte Ungarn seinen Beitrag zur Weiterentwicklung Europas geleistet. Noch im gleichen Jahr fiel die Berliner Mauer, das Sinnbild für den Eisernen Vorhang schlechthin. Der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stand nichts mehr im Weg. Aber auch Ungarn profitierte von dieser Entwicklung: auch hier wurde der Kommunismus zu Fall gebracht und der Weg zu einem demokratischen Regierungssystem geebnet. Am 23. Oktober 1989 wurde die dritte ungarische Republik ausgerufen.
Ungarn heute
Seit dem 23. Oktober 1989 ist Ungarn eine demokratische und parlamentarische Republik. Die erste Regierung dieser Republik setzte sich aus Volksvertretern der Parteien Ungarisches Demokratisches Forum (MDF), Unabhängige Partei der Kleinen Landwirte (FKGP) und Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP) zusammen. Erster Ministerpräsident dieser dritten ungarischen Republik wurde József Antall, damaliger Vorsitzender der MDF.
Von Anfang an hatte sich die Republik Ungarn zum Ziel gesetzt, die (freie) Marktwirtschaft zu etablieren und das Land in die Europäische Union zu integrieren. Etappen hierzu bildeten der Austritt aus dem Warschauer Pakt 1990, die Wahl des ersten Staatspräsidenten Árpád Göncz im gleichen Jahr, der Abzug der sowjetischen Trupppen 1991, sowie die Mitgliedschaft in der Partnerschaft für den Frieden und der Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union 1994. Im Jahr 1998 begannen die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Im selben Jahr beantragte Ungarn auch die Mitgliedschaft in der NATO.
Bei der Volksabstimmung über den Beitritt des Landes zur Europäischen Union im Jahr 2003 sprachen sich 83,8% der Wähler für den Beitritt aus. In der Folge wurden 2003 die Beitrittsverträge unterzeichnet; seit dem 1. Mai 2004 ist Ungarn offiziell Mitglied der Europäischen Union. Somit hat Ungarn seine politischen Ziele, die es sich selbst bei der Staatsneugründung steckte, erfüllt: die Umstellung auf eine freie Marktwirtschaft ist ebenso geglückt wie der Beitritt zur EU.